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hat die Kommission eventuell gar kein Interesse mehr an sekundärrechtlichen
Regelungen, wenn diese wie im Fall der Dienstleistungsrichtlinie hinter dem zu-
rückzubleiben drohen, was der EuGH bereits durch judikative Politik an Inte-
gration realisiert hat.
Aufgrund bestimmter Charakteristika, so das Argument, spielt Rechtsunsi-
cherheit auf der europäischen eine größere Rolle als auf der nationalen Ebene.
13 Communication from the Commission: Posting of workers in the framework of the provision
of services  maximising its benefits and potential while guaranteeing the protection of work-
ers; unter http://ec.europa.eu/employment_social/news/2007/jun/communication_en.pdf
(26.7.2007).
122 S U S A N N E K. SC H M I D T
Sekundärrecht ist sehr viel stärker als im nationalen Kontext durch Formelkom-
promisse geprägt. Aufgrund des Mehrebenencharakters trifft einheitliches euro-
päisches Recht auf heterogene nationale Rechtsordnungen und muss deshalb in
seinen Konsequenzen für die unterschiedlichen Mitgliedstaaten übersetzt wer-
den, mit der jeweils offenen Frage, welche Auswirkungen sich hieraus für ande-
re Mitgliedstaaten ergeben. Dadurch handeln Mitgliedstaaten in der legislativen
Politik vor einer unsicheren Rückfallposition. Je nachdem wie diese eingeschätzt
wird, also beispielsweise inwieweit sie noch von einer Situation nationaler Sou-
veränität beziehungsweise von autonomen rechtlichen Steuerungsmöglichkeiten
ausgehen, sind sie einigungsbereiter oder auch nicht.
Damit wird die Frage nach den Determinanten judikativer Politik zu der
entscheidenden. Der EuGH kann, ähnlich wie die Kommission, als korpora-
tiver Akteur konzeptualisiert werden, der auch bestimmte Eigeninteressen an
der Sicherung, dem Ausbau und der Unabhängigkeit seiner eigenen Position
verfolgt. Dabei muss er aber durchaus die Interessen der Mitgliedstaaten be-
achten. Die Principal-Agent-Theorie lehrt, dass der EuGH einen erheblichen
Handlungsspielraum hat, weil er lediglich einige, im Extremfall nur einen einzi-
gen Mitgliedstaat durch seine Urteile besserstellen muss, um vor der einstimmig
zu erfolgenden Vertragsänderung als Sanktion gefeit zu sein (Kassim/Menon
2003; Tsebelis/Garrett 2001). Das gilt aber nur, solange die Mitgliedstaaten
rein inhaltlich orientiert sind und nicht auch Interessen bezogen auf das insti-
tutionelle Gleichgewicht der Union vertreten. Ist dies der Fall, muss der EuGH
Widerspruch fürchten, da seine Rechtsprechung dann nicht als in Delegation
wahrgenommene Konfliktlösung, sondern als Verfolgung einer von den Mit-
gliedstaaten so nicht gewünschten Politik wahrgenommen wird. Angesichts der
Heterogenität der EU-27 ist ein sichtbarer Konsens unter den Mitgliedstaaten
über die Richtung und das Ausmaß der Entwicklung der Rechtsprechung aber
mehr als unwahrscheinlich.
Der Konflikt um die Dienstleistungsrichtlinie mit dem »Opfer« des Verfas-
sungsvertrages hat gleichzeitig gezeigt, dass Integration durch Recht an seine
Grenzen stößt. Insofern sind Kommission und Europäischer Gerichtshof
wahrscheinlich gut beraten, auch in den Bereichen, wo durch Richterrecht die
Integration gut voranzutreiben ist, wie im Bereich der Niederlassungsfreiheit
und der Gesundheitsdienstleistungen, durch sekundärrechtliche Vorschläge ei-
nen »Realitätscheck« einzuplanen. Aber diese Legitimationsgrenzen weisen über
den vorliegenden Aufsatz hinaus. Hier ging es lediglich darum aufzuzeigen, dass
legislative Politik in der EU oft nicht ausreichend verstanden werden kann, wenn
nicht der Kontext judikativer Politik miteinbezogen wird.
Auch nationale Politik findet im Kontext der Rechtsprechung statt, die je
nach Stellung oberster Gerichte mehr (zum Beispiel in der Bundesrepublik
E U R O P Ä I S C H E I N T E G R A T I O N  J U D I K A T I V E U N D L E G I S L A T I V E PO L I T I K 123
Deutschland) oder minder (zum Beispiel Großbritannien) prägend wirkt (Abro-
meit 1995). Inwieweit lässt sich auf supranationaler Ebene von einer neuen
Qualität des Zusammenhangs sprechen? Zunächst führt der supranationale
Charakter des Systems zu einer im Vergleich zum nationalen Kontext größe-
ren Unabhängigkeit der Judikativen. Während nationale Verfassungen immerhin
mit einer qualifizierten Mehrheit noch geändert werden können, ist dies durch
das Einstimmigkeitserfordernis der Verträge als Reaktion auf Urteile höchst un-
wahrscheinlich (Scharpf 2004). Gleichzeitig kann man davon ausgehen, dass
nationale Gerichte durch die Einbettung in einen nationalen politischen Diskurs
sowohl die Auswirkungen ihrer Urteile als auch deren Legitimität besser abschät-
zen können. Als Überbau über 27 sehr unterschiedlich strukturierte Polities sind
die letztlichen nationalen Konsequenzen von Urteilen des EuGH kaum noch
abzuschätzen. Dennoch werden an den EuGH viele offene Konflikte delegiert,
und er muss sehen, welche Balance er zwischen der Verantwortung für die euro-
päische Integration und seiner ungesicherten Legitimation findet. Frühzeitig hat
Weiler den Zusammenhang zwischen dem Intergouvernementalismus des Rates
und der supranationalen Rechtsordnung herausgearbeitet (Weiler 1981, 1991).
Angesichts der breiten Rezeption überrascht es, wie wenig politikwissenschaftli-
che Analysen europäischer Entscheidungsprozesse dennoch dieses Richterrecht
einbeziehen, so als befände sich die Rechtsordnung der EU nicht auch unabhän-
gig von den Mitgliedstaaten in einem steten Wandel.
Literatur
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54, 401 419.
Abromeit, Heidrun, 1995: Volkssouveränität, Parlamentssouveränität, Verfassungssouveräni-
tät: Drei Realmodelle der Legitimation staatlichen Handelns. In: Politische Vierteljahresschrift
36, 49 66.
Alexander, Gerard, 2002: Institutionalized Uncertainty, The Rule of Law, and the Sources of
Democratic Stability. In: Comparative Political Studies 35, 1145 1169.
Alter, Karen J., 2001: Establishing the Supremacy of European Law  The Making of an International [ Pobierz całość w formacie PDF ]
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