[ Pobierz całość w formacie PDF ]
Rosalie?«, fragte er. »Ich bin ein alter Mann, Sie überfordern
mich.« Er versuchte fröhlich zu klingen, doch seine Stimme war
heiser.
»Ach, Max!« Sie drückte seine knochige Hand, die auf der
dünnen Bettdecke ruhte. »Sie sehen wirklich furchtbar aus. Haben
Sie noch Schmerzen?«
Er schüttelte den Kopf. »Die Schmerzen sind erträglich. Ich bin
heute sogar schon ein paar Schritte gegangen, dank eines freund-
lichen Dragoners, der sich Schwester schimpft. Nur zum Schlafen
kommt man hier nicht. Ständig geht die Tür auf, und einer dieser
Weißkittel kommt rein und will irgendwas. Und alle fragen einen
immer dasselbe. Ich frage mich, ob die überhaupt miteinander
sprechen.«
Er seufzte tief, strich die Bettdecke glatt und deutete mit dem
Finger auf einen Stuhl, der in der Ecke stand. »Nehmen Sie sich
178/308
einen Stuhl, Rosalie. Ich bin wirklich sehr froh, dass Sie herkom-
men konnten. Sie sind der erste normale Mensch, den ich seit Ta-
gen sehe.«
Rosalie lachte. »Sie dürfen nicht so ungeduldig sein, Max. Sie
sind doch erst ein paar Tage hier, und die Ärzte und Schwestern
machen einfach nur ihren Job.« Sie zog sich den Stuhl neben sein
Bett, setzte sich und schlug die Beine übereinander.
»Ja, ich fürchte, ich bin ein sehr ungeduldiger Patient.« Sein
Blick folgte ihren Bewegungen und blieb an den zierlichen hell-
blauen Riemchensandalen mit dem kleinen Absatz hängen, in den-
en ihre Füße mit den lackierten Zehen steckten. »Hübsche
Schuhe«, sagte er unvermittelt.
Rosalie zog verblüfft die Augenbrauen hoch. »Oh. Danke! Ganz
normale Sommersandalen.«
»Ach & wissen Sie, man lernt das Normale sehr zu schätzen,
wenn man ein paar Tage auf der anderen Seite des Flusses ist«, ent-
gegnete er philosophisch. »Ich hoffe, ich kann bald raus aus diesem
Laden.«
»Das hoffe ich auch. Sie haben mir einen ganz schönen Schreck-
en eingejagt. Ich hatte schon das ganze Wochenende vergeblich ver-
sucht, Sie zu erreichen, aber dass wir uns in einem Krankenhaus
wiedersehen würden, damit habe ich nun wirklich nicht
gerechnet.«
»Ja, ich hab das Klingeln auf allen Leitungen gehört. Dummer-
weise war ich nicht in der Lage, abzuheben«, scherzte er. »Was gab
es denn so Dringendes?«
Mist! Rosalie biss sich auf die Unterlippe. Das war nun wirklich
nicht der richtige Moment, um wieder mit dem Buch anzufangen
und die Frage nach der rätselhaften Widmung zu stellen. Das
musste warten, bis Max sich wieder etwas erholt hatte.
179/308
»Ach & ich hatte Ihnen einfach nur vorschlagen wollen, ob Sie
nächste Woche nicht nach Paris kommen und mit mir zu Mittag zu
essen möchten«, schwindelte sie. »Ich habe jetzt für drei Nachmit-
tage eine Aushilfe im Laden, und René ist ab Ende der Woche auf
einem Fortbildungsseminar in San Diego. Da dachte ich, wir kön-
nten uns gemeinsam die Zeit vertreiben.«
Zumindest die beiden letzten Dinge entsprachen der Wahrheit.
Zu schade, dass Madame Morel nicht schon am heutigen Tag hatte
anfangen können. Rosalie hatte am Morgen ein Schild in die
Ladentür gehängt. Heute wegen dringender Familienangelegen-
heiten geschlossen stand darauf.
Sie lächelte. Sie wusste nicht, ob es sich um eine Familienangele-
genheit im strengeren Sinne handelte, aber es fühlte sich so an. Sie
starrte auf den großen Mann mit den buschigen Augenbrauen, der
jetzt mit einem Mal so hilflos und hinfällig wirkte. Unter der
dünnen Oberfläche lauerten stets die Zeichen der Vergänglichkeit.
Wie schnell die Fassade bei einem älteren Menschen bröckelte,
wenn dieser aus seiner gewohnten Umlaufbahn katapultiert wurde
und nicht mehr in der Lage war, auf sich zu achten!, dachte sie. Sie
sah sein dünnes Krankenhausnachthemd, sein graues Gesicht, be-
merkte, dass er unrasiert war, und entdeckte im Gegenlicht ein
paar graue Bartstoppeln, die sie anrührten. Seltsam, dieser alte
Mann war ihr so vertraut wie ein Großvater. Und in diesem Mo-
ment sah er auch wie ein Großvater aus. Rosalie war froh, dass er
noch lebte, erleichtert, dass ihm nichts Schlimmeres passiert war,
und auf keinen Fall würde sie ihn jetzt mit Shermans Geschichte
behelligen. Man sah ja, dass er in keiner guten Verfassung war.
»Tja, ich fürchte, aus einem Essen in Paris wird vorerst nichts,
liebe Mademoiselle Rosalie, so verlockend der Gedanke auch
wäre«, sagte Max, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Sie sehen ja
selbst, was mit mir los ist. Und wenn es diese künstlichen
180/308
Hüftgelenke nicht gäbe, müsste ich sogar noch wochenlang im Bett
liegen.« Er deutete auf die Bettdecke, unter der sich seine Beine
abzeichneten. Unten ragte sein rechter Fuß ein Stück heraus.
»Meine Güte, haben Sie sich auch noch den Zeh gebrochen?«,
fragte Rosalie und deutete auf die dunkel verfärbte kleine Zehe von
Max Marchais.
»Was? Nein!« Max wackelte mit den Zehen. »Ich hab ja ver-
schiedene Baustellen, aber der kleine Zeh ist völlig in Ordnung. Der
war immer schon so braun ist ein Leberfleck.« Er grinste. »Mein
dunkler Fleck, wenn Sie so wollen.«
»Sie stecken wirklich voller Überraschungen, Max«, entgegnete
Rosalie und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Und nun erzählen
Sie mir mal bitte, was Sie auf einer Leiter machen? Wollten Sie et-
wa Kirschen pflücken?«
»Kirschen pflücken?« Er zog verblüfft die Augenbrauen hoch.
»Wie kommen Sie denn auf diese Idee? Nein, nein, ich stand auf
meiner Bibliotheksleiter und wollte ein Buch zurückstellen &
Kennen Sie Blaise Pascal, Mademoiselle Rosalie?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber es scheint eine gefährliche
Lektüre zu sein.«
Nachdem Max Marchais seine Geschichte erzählt hatte, in der die
Gedanken eines Philosophen, eine alte Holzleiter, ein costa-ricanis-
cher Gärtner und ein Benzinrasenmäher für die nötige Dramatik
sorgten, übergab er Rosalie den Schlüssel zu seinem Haus in Le
Vésinet mit der Bitte, ihm noch einige Dinge zu holen, die er
benötigte.
»Es tut mir leid, dass ich Sie bemühen muss, Rosalie, aber Marie-
Hélène ist verreist, wie Sie wissen. Sebastiano hat sie bereits in-
formiert, und ich denke, dass sie früher als geplant zurückkommt
allein schon deswegen, weil sie immer recht behalten will , aber
181/308
wann genau, weiß ich nicht.« Er hob seufzend die Schultern. »Se-
bastiano hat mir zwar das Leben gerettet, wofür ich ihm unendlich
dankbar bin, aber was das Packen angeht, ist er nicht sonderlich [ Pobierz całość w formacie PDF ]
zanotowane.pl doc.pisz.pl pdf.pisz.pl exclamation.htw.pl
Rosalie?«, fragte er. »Ich bin ein alter Mann, Sie überfordern
mich.« Er versuchte fröhlich zu klingen, doch seine Stimme war
heiser.
»Ach, Max!« Sie drückte seine knochige Hand, die auf der
dünnen Bettdecke ruhte. »Sie sehen wirklich furchtbar aus. Haben
Sie noch Schmerzen?«
Er schüttelte den Kopf. »Die Schmerzen sind erträglich. Ich bin
heute sogar schon ein paar Schritte gegangen, dank eines freund-
lichen Dragoners, der sich Schwester schimpft. Nur zum Schlafen
kommt man hier nicht. Ständig geht die Tür auf, und einer dieser
Weißkittel kommt rein und will irgendwas. Und alle fragen einen
immer dasselbe. Ich frage mich, ob die überhaupt miteinander
sprechen.«
Er seufzte tief, strich die Bettdecke glatt und deutete mit dem
Finger auf einen Stuhl, der in der Ecke stand. »Nehmen Sie sich
178/308
einen Stuhl, Rosalie. Ich bin wirklich sehr froh, dass Sie herkom-
men konnten. Sie sind der erste normale Mensch, den ich seit Ta-
gen sehe.«
Rosalie lachte. »Sie dürfen nicht so ungeduldig sein, Max. Sie
sind doch erst ein paar Tage hier, und die Ärzte und Schwestern
machen einfach nur ihren Job.« Sie zog sich den Stuhl neben sein
Bett, setzte sich und schlug die Beine übereinander.
»Ja, ich fürchte, ich bin ein sehr ungeduldiger Patient.« Sein
Blick folgte ihren Bewegungen und blieb an den zierlichen hell-
blauen Riemchensandalen mit dem kleinen Absatz hängen, in den-
en ihre Füße mit den lackierten Zehen steckten. »Hübsche
Schuhe«, sagte er unvermittelt.
Rosalie zog verblüfft die Augenbrauen hoch. »Oh. Danke! Ganz
normale Sommersandalen.«
»Ach & wissen Sie, man lernt das Normale sehr zu schätzen,
wenn man ein paar Tage auf der anderen Seite des Flusses ist«, ent-
gegnete er philosophisch. »Ich hoffe, ich kann bald raus aus diesem
Laden.«
»Das hoffe ich auch. Sie haben mir einen ganz schönen Schreck-
en eingejagt. Ich hatte schon das ganze Wochenende vergeblich ver-
sucht, Sie zu erreichen, aber dass wir uns in einem Krankenhaus
wiedersehen würden, damit habe ich nun wirklich nicht
gerechnet.«
»Ja, ich hab das Klingeln auf allen Leitungen gehört. Dummer-
weise war ich nicht in der Lage, abzuheben«, scherzte er. »Was gab
es denn so Dringendes?«
Mist! Rosalie biss sich auf die Unterlippe. Das war nun wirklich
nicht der richtige Moment, um wieder mit dem Buch anzufangen
und die Frage nach der rätselhaften Widmung zu stellen. Das
musste warten, bis Max sich wieder etwas erholt hatte.
179/308
»Ach & ich hatte Ihnen einfach nur vorschlagen wollen, ob Sie
nächste Woche nicht nach Paris kommen und mit mir zu Mittag zu
essen möchten«, schwindelte sie. »Ich habe jetzt für drei Nachmit-
tage eine Aushilfe im Laden, und René ist ab Ende der Woche auf
einem Fortbildungsseminar in San Diego. Da dachte ich, wir kön-
nten uns gemeinsam die Zeit vertreiben.«
Zumindest die beiden letzten Dinge entsprachen der Wahrheit.
Zu schade, dass Madame Morel nicht schon am heutigen Tag hatte
anfangen können. Rosalie hatte am Morgen ein Schild in die
Ladentür gehängt. Heute wegen dringender Familienangelegen-
heiten geschlossen stand darauf.
Sie lächelte. Sie wusste nicht, ob es sich um eine Familienangele-
genheit im strengeren Sinne handelte, aber es fühlte sich so an. Sie
starrte auf den großen Mann mit den buschigen Augenbrauen, der
jetzt mit einem Mal so hilflos und hinfällig wirkte. Unter der
dünnen Oberfläche lauerten stets die Zeichen der Vergänglichkeit.
Wie schnell die Fassade bei einem älteren Menschen bröckelte,
wenn dieser aus seiner gewohnten Umlaufbahn katapultiert wurde
und nicht mehr in der Lage war, auf sich zu achten!, dachte sie. Sie
sah sein dünnes Krankenhausnachthemd, sein graues Gesicht, be-
merkte, dass er unrasiert war, und entdeckte im Gegenlicht ein
paar graue Bartstoppeln, die sie anrührten. Seltsam, dieser alte
Mann war ihr so vertraut wie ein Großvater. Und in diesem Mo-
ment sah er auch wie ein Großvater aus. Rosalie war froh, dass er
noch lebte, erleichtert, dass ihm nichts Schlimmeres passiert war,
und auf keinen Fall würde sie ihn jetzt mit Shermans Geschichte
behelligen. Man sah ja, dass er in keiner guten Verfassung war.
»Tja, ich fürchte, aus einem Essen in Paris wird vorerst nichts,
liebe Mademoiselle Rosalie, so verlockend der Gedanke auch
wäre«, sagte Max, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Sie sehen ja
selbst, was mit mir los ist. Und wenn es diese künstlichen
180/308
Hüftgelenke nicht gäbe, müsste ich sogar noch wochenlang im Bett
liegen.« Er deutete auf die Bettdecke, unter der sich seine Beine
abzeichneten. Unten ragte sein rechter Fuß ein Stück heraus.
»Meine Güte, haben Sie sich auch noch den Zeh gebrochen?«,
fragte Rosalie und deutete auf die dunkel verfärbte kleine Zehe von
Max Marchais.
»Was? Nein!« Max wackelte mit den Zehen. »Ich hab ja ver-
schiedene Baustellen, aber der kleine Zeh ist völlig in Ordnung. Der
war immer schon so braun ist ein Leberfleck.« Er grinste. »Mein
dunkler Fleck, wenn Sie so wollen.«
»Sie stecken wirklich voller Überraschungen, Max«, entgegnete
Rosalie und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Und nun erzählen
Sie mir mal bitte, was Sie auf einer Leiter machen? Wollten Sie et-
wa Kirschen pflücken?«
»Kirschen pflücken?« Er zog verblüfft die Augenbrauen hoch.
»Wie kommen Sie denn auf diese Idee? Nein, nein, ich stand auf
meiner Bibliotheksleiter und wollte ein Buch zurückstellen &
Kennen Sie Blaise Pascal, Mademoiselle Rosalie?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber es scheint eine gefährliche
Lektüre zu sein.«
Nachdem Max Marchais seine Geschichte erzählt hatte, in der die
Gedanken eines Philosophen, eine alte Holzleiter, ein costa-ricanis-
cher Gärtner und ein Benzinrasenmäher für die nötige Dramatik
sorgten, übergab er Rosalie den Schlüssel zu seinem Haus in Le
Vésinet mit der Bitte, ihm noch einige Dinge zu holen, die er
benötigte.
»Es tut mir leid, dass ich Sie bemühen muss, Rosalie, aber Marie-
Hélène ist verreist, wie Sie wissen. Sebastiano hat sie bereits in-
formiert, und ich denke, dass sie früher als geplant zurückkommt
allein schon deswegen, weil sie immer recht behalten will , aber
181/308
wann genau, weiß ich nicht.« Er hob seufzend die Schultern. »Se-
bastiano hat mir zwar das Leben gerettet, wofür ich ihm unendlich
dankbar bin, aber was das Packen angeht, ist er nicht sonderlich [ Pobierz całość w formacie PDF ]